Economics and politics - comment and analysis
9. March 2020 I Heiner Flassbeck - Friederike Spiecker I Economic Policy, Economic Theory, Europe, Statistics

Arbeitgeber-Forschung und ihre Folgen

Es ist Jahr für Jahr verblüffend zu sehen, mit welch einfachen Mitteln man große Politik machen kann, wenn man – das ist allerdings die unverzichtbare Voraussetzung – gleichzeitig noch im Besitz der großen Medien ist. Alle Jahre wieder schreibt das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) über Löhne und Lohnstückkosten im internationalen Vergleich, und Jahr für Jahr werden die Botschaften von willigen Medien wie der WELT eins zu eins verbreitet. Die großen Unternehmensverbände kaufen sich einfach (für läppische zwölf Millionen Euro im Jahr) ein Institut, das nichts anderes im Sinn hat, als bei wichtigen wirtschaftlichen Fragen die Öffentlichkeit in die „richtige Richtung zu führen“ oder zumindest, wenn das nicht hundertprozentig gelingt, die Öffentlichkeit so zu verunsichern, dass sich niemand mehr traut, das eigentlich Offensichtliche laut zu sagen.

Das „Institut der deutschen Wirtschaft“ nennt sich selbst „Privates Wirtschaftsforschungsinstitut“, zielt aber mit den Ergebnissen seiner „Forschung“ komischerweise immer in die gleiche Richtung, nämlich dahin, wo es den Arbeitnehmern weh tut. Im letzten „Vierteljahresheft zur empirischen Wirtschaftsforschung (IW-Trends 1/2020) heißt es mal wieder, es ergebe sich „ein deutlich verringerter Spielraum für Entgelterhöhungen“ für die nächsten Jahre. Noch nie hat das „wissenschaftliche Institut“ herausgefunden, dass die Löhne zu wenig gestiegen sind, dass die Lohnzurückhaltung der Vergangenheit überzogen war oder dass die deutsche Lohnzurückhaltung via riesige Leistungsbilanzüberschüsse in Europa ein gewaltiges Problem geschaffen hat. Das ist doch komisch, wenn man sich der Wissenschaft verpflichtet fühlt.

Aber auch das wäre kein Problem, wenn dem Arbeitgeberinstitut ein schlagkräftiges und mutiges Gewerkschaftsinstitut mit der gleichen Medienmacht gegenüberstünde. Doch davon kann in Deutschland nicht die Rede sein. Die Gewerkschaften samt ihrem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) sind in der Lohnfrage äußerst defensiv, und eine Medienmacht, die ihre Interessen vertreten würde, gibt es nicht.

Hinzu kommt allerdings, dass sich auf der Gewerkschaftsseite immer stärker ein betriebswirtschaftliches Denken durchsetzt. Diejenigen, die Macht in der Arbeiterbewegung haben, glauben offenbar – nicht anders als die Arbeitgeber es vermuten –, es gebe einen direkten Konflikt zwischen Lohnerhöhungen und Arbeitsplätzen. Anders kann man es nicht erklären, dass in den vergangenen Jahren trotz der vielbeschworenen Fachkräfteknappheit die Lohnabschlüsse weit unter den wirtschaftlichen Möglichkeiten geblieben sind und die IG Metall in die diesjährige Lohnrunde sogar ohne eine klare Lohnforderung gegangen ist. Betriebswirtschaftlich ist dieses Denken richtig, volkswirtschaftlich ist es falsch.

In seinem diesjährigen Bericht zu den „Lohnstückkosten im internationalen Vergleich“ kommt das IW zu dem Ergebnis, die deutsche Wirtschaft habe in den vergangenen Jahren massiv an Wettbewerbsfähigkeit verloren und weise sogar gegenüber dem Euroraum inzwischen einen absoluten Nachteil bei den Lohnstückkosten von neun Prozent auf. Das Institut schreibt gleich zu Beginn seiner Zusammenfassung der Ergebnisse:

„Das deutsche Verarbeitende Gewerbe hat im internationalen Vergleich ein hohes Lohnstückkostenniveau. Im Durchschnitt waren die deutschen Lohnstückkosten im Jahr 2018 um 15 Prozent höher als in den 27 Vergleichsländern. Der Kostennachteil Deutschlands gegenüber dem Euroraum belief sich auf 9 Prozent.“

Es „belegt“ diese Aussage sogar mit einer Graphik (der Abbildung 1 in dem Bericht), die von der Presse (wie hier von Gabor Steingart im Focus) aufgegriffen wurde. (Dass Steingart das interessante Detail weglässt, dass die Berechnung des Länderdurchschnitts durch das IW Deutschland nicht beinhaltet – was den angeblichen Kostennachteil Deutschlands rein rechnerisch noch etwas größer ausfallen lässt –, trägt nicht zur Seriosität der Argumentation bei.) Dagegen steht, dass es eindeutige Hinweise darauf gibt, dass Deutschland seit vielen Jahren gegenüber den anderen Mitgliedern der EWU einen beachtlichen Kostenvorteil aufweist, weil vor allem zu Beginn der 2000er Jahre die Löhne in Deutschland besonders wenig gestiegen sind.

Und genau das wird auch vom IW – im Widerspruch zu der obigen Aussage – bestätigt. In der Abbildung 4 des IW-Berichts, die hier im Original wiedergegeben wird, lässt sich nämlich ablesen, dass Deutschland immer noch einen erheblichen Vorteil gegenüber den Ländern des Euroraumes aufweist. Der Durchschnitt der Euroländer ohne Deutschland (und ohne ein paar kleinere Länder, s. die Fußnote in der Abbildung) ist hier gleich einhundert gesetzt, und Deutschland liegt die ganze Zeit und eben auch 2018 deutlich darunter (vgl. die graue Linie). (Dass diese Grafik die Verhältnisse im Verarbeitenden Gewerbe wiedergibt und nicht die in der Gesamtwirtschaft, steht zwar nicht explizit dabei, ist aber tatsächlich der Fall, wie unsere Nachrechnung ergeben hat.)

Wie erklärt sich dieser Widerspruch, den ökonomische Laien wie Gabor Steingart nicht erkannt haben oder zumindest nicht thematisieren? Nun, einen entscheidenden Hinweis gibt das IW selbst, wenn es klarstellt:

„Der alleinige Vergleich der Lohnstückkostenniveaus kann unvollständig sein, da die Höhe der Lohnstückkosten durch Struktureffekte beeinflusst wird. So ist beispielsweise der arbeitsintensive Maschinenbau in Deutschland überrepräsentiert. Dies führt für sich genommen zu einem niedrigeren Niveau der Arbeitsproduktivität und damit zu höheren Lohnstückkosten.“

Das stimmt, man muss es nur klarer ausdrücken. Der Vergleich der Lohnstückostenniveaus ist nicht „unvollständig“, sondern unzulässig, weil unsinnig. Da die Länder (und insbesondere ihre Industrien) sehr unterschiedliche Strukturen aufweisen – wie etwa der starke und arbeitsintensive Maschinenbau in Deutschland –, besagen die Lohnstückkostenniveaus nichts. Es gibt zum Beispiel die vielbeschworenen Qualitätsvorteile der deutschen Industrie, die sich in einem hohen Preisniveau für die deutschen Güter widerspiegeln. Dieses hohe Preis- und Kostenniveau ist für sich genommen kein Wettbewerbsnachteil, weil es nur die Tatsache reflektiert, dass in Deutschlands verarbeitendem Gewerbe besonders viele hochqualifizierte Arbeitskräfte kreativ arbeiten. Wenn deutsche Industrieunternehmen einfache Arbeiten in Länder verlagern, wo die Löhne sehr viel niedriger sind, bedeutet das Produktivitätsverluste für die heimische Industrie. Denn diese Arbeiten werden mit hohem Kapitaleinsatz durchgeführt, was die durchschnittliche Produktivität der dortigen Industrie rasch erhöht, hierzulande aber den Lohnanteil an der Wertschöpfung erhöht.

Wie absurd absolute Lohnstückkosten-Vergleiche sind, zeigt die Betrachtung Deutschlands und Österreichs (Abbildung 1). Österreich ist das Land, das am längsten unveränderlich feste Wechselkurse mit Deutschland hatte (seit Anfang der 1970er Jahre), wo sich aber niemals Wettbewerbsprobleme auf deutscher Seite bemerkbar machten. In einer Rechnung mit absoluten Lohnstückkosten (dem Lohnstückkostenniveau) liegt Österreich aber im verarbeitenden Gewerbe schon seit einigen Jahrzehnten um mehr als zehn Punkte unter Deutschland, in der Gesamtwirtschaft aber zehn Punkte darüber.

Abbildung 1

Die Entwicklung der Lohnstückkosten in Deutschland und Österreich war sehr ähnlich (Abbildung 2). In der Industrie lag Österreich fast immer gleichauf, hat aber in der Gesamtwirtschaft doch im Zeitablauf an Wettbewerbsfähigkeit verloren, weil Österreich nicht einen mit Deutschland vergleichbaren Niedriglohnsektor aufgebaut hat.

Abbildung 2

Der für die Wettbewerbsfähigkeit entscheidende Zusammenhang ist eben nicht das Lohnstückkostenniveau, und das weiß auch das IW. Wenn ein Land beginnt, Lohndumping zu betreiben, dann sinken die Preise in diesem Land unter das Niveau, das von der Qualität der Produkte und von den Kosten des Arbeitsinputs gerechtfertigt ist. Dann geraten die Handelspartner in Schwierigkeiten, selbst wenn die Preise und Kosten ihrer Produkte absolut gesehen noch niedriger sind. Deswegen ist es unabdingbar, die Entwicklung der Kosten im Zeitverlauf zu betrachten, um zu sehen, ob von einem bestimmten Niveau aus ein solches Lohndumping oder umgekehrt eine überdurchschnittliche, Wettbewerbsfähigkeit zerstörende Lohnsteigerung stattgefunden hat. Ein einzelnes Stichjahr herauszugreifen (wie in der Untersuchung des IW das Jahr 2018), um dort Niveauvergleiche zwischen Ländern anzustellen, kann keinen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn bringen, sondern dient ganz offensichtlich nur der politischen Stimmungsmache.

Lohndumping ist selbstverständlich dann ein besonders gravierender und ungerechtfertigter Eingriff in den internationalen Handel, wenn sich die Handelspartner in einer Währungsunion zusammengeschlossen haben. Ohne diese Währungsunion werden unterschiedliche Entwicklungen der Kosten- und Preisniveaus von Wechselkursänderungen ausgeglichen oder können es zumindest werden, was Lohndumping von vorneherein unsinnig macht. Mit Währungsunion gibt es dieses Ventil zwischen den Unionsmitgliedern nicht (mehr), was notwendigerweise zu Spannungen führt, wenn ein Mitglied dieses „Instrument“ einsetzt, statt sich an die wichtigste Spielregel der Währungsunion zu halten, nämlich an das gemeinsam vereinbarte Inflationsziel.

Abbildung 3

Wie die Abbildung 3 zeigt, kann man nicht bestreiten, dass Deutschland seit Beginn der EWU Lohndumping betrieben hat. Das geht auch aus der eingangs abgedruckten Graphik des IW hervor. Abbildung 3 zeigt auch, dass diese Aussage sowohl für die Gesamtwirtschaft wie für das verarbeitende Gewerbe gilt (die gewaltige Spitze nach oben im Jahr 2009 ist der Tatsache geschuldet, dass in einer schweren Rezession die Produktivität in der Industrie immer besonders stark sinkt). Und es lässt sich auch ablesen, dass nach zwanzig Jahren der deutsche Vorsprung zwar geschmolzen, aber keineswegs verschwunden ist. Sollen die anderen Länder eine Chance haben, einen Teil der Marktanteile zurückzugewinnen, den sie in den vergangenen zwanzig Jahren verloren haben, muss die deutsche Kurve weit über den Wert 100 hinaus steigen.

Es kann auch nicht bestritten werden, dass die deutschen Exporterfolge und der Aufbau des gewaltigen deutschen Leistungsbilanzüberschusses genau mit diesem Lohndumping erklärt werden müssen (Abbildungen 4 und 5).

Abbildung 4

Während Deutschland die EWU-Partner durch Lohndumping beim internationalen Handel unterbot und so Jahr für Jahr steigende Überschüsse erzielte, konnten sich die EWU-Partner erst aus der Defizit-Zone herausbewegen, als die Lohnstückkosten in ihrer Industrie zu sinken begannen. Das Ergebnis bei der Entwicklung des Preisniveaus in der EWU ist bekannt: ein permanentes Verfehlen des Inflationsziels seit einem Jahrzehnt, Zinsen auf dem niedrigsten Niveau und eine hilflose Geldpolitik, die die Konjunktur nicht anzuschieben schafft und der drohenden Rezession nichts mehr entgegenzusetzen hat.

Abbildung 5

In der EWU ging es von Anfang an immer nur um die Anpassung im Zeitverlauf in der Gesamtwirtschaft. Da der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Lohnstückkosten (auf der Ebene der Gesamtwirtschaft) und der Inflation extrem eng ist, war es die Aufgabe der Mitgliedsstaaten, ihre Lohnentwicklung so zu steuern, dass das gemeinsam beschlossene Inflationsziel von knapp zwei Prozent erreicht werden kann.

Insofern ist der Versuch des IW, die deutsche Lohnpolitik ab 1999 mit den Entwicklungen von 1991 bis zum Beginn der EWU zu verteidigen, von vorneherein verfehlt. Wäre die Aussage des IW richtig, Deutschland habe in der EWU nur an Wettbewerbsfähigkeit aufgeholt, was es vor der EWU jahrelang verloren habe, hätte Deutschland niemals dem Inflationsziel der EWU von zwei Prozent zustimmen dürfen bzw. hätte gegenüber den Partnern darauf beharren müssen, zu einem anderen Wechselkurs (nämlich einem niedrigeren) in die EWU einzusteigen. Das stand damals nicht zur Debatte, weil es für einen solchen Wettbewerbsnachteil beim Kosten- und Preisniveau zum vereinbarten Wechselkurs keinerlei empirischen Beleg gab. Vielmehr war der Einstiegswechselkurs für jedes Land so festgelegt, dass der durchschnittliche Warenkorb in jedem Land in Euro gleich teuer war. Die Deutsche Bundesbank wäre genau wie die deutsche Exportindustrie Sturm gegen einen Wechselkurs gelaufen, der diesem Maßstab nicht entsprochen hätte, sondern den deutschen Warenkorb systematisch teurer gemacht hätte als bei den Währungspartnern. Denn das hätte von vornherein zu einem ungerechtfertigten Außenhandelsgefälle geführt. Umgekehrt hätten die Währungspartner keinen Wechselkurs akzeptiert, der den deutschen Warenkorb von vornherein systematisch billiger gemacht hätte als ihre eigenen Warenkörbe. Anders als das manche denken mögen, kommt die unterschiedliche Produktivität (d.h. die unterschiedliche Kapitalstockbasis) der Mitgliedsstaaten zu Beginn einer Währungsunion nämlich nicht in unterschiedlichem Preisniveau zum Ausdruck, sondern darin, dass unterschiedlich viele Stunden für den Erwerb desselben durchschnittlichen Warenkorbs gearbeitet werden müssen.

Die Behauptung des IW, die deutsche Industrie sei zu Beginn der EWU zu teuer gewesen, ist falsch, weil Deutschland seine Exporterfolge nach Beginn der EWU nicht hätte erzielen können, wenn es nur aufgeholt hätte, was es vorher verloren hatte. Dann hätte es ja gerade nicht die unbestreitbar enormen Exportüberschüsse und die großen relativen Marktanteilsgewinne gegenüber den europäischen Nachbarn erzielen können. Exporterfolge und Marktanteilsgewinne beruhen auf absoluten Vorteilen, und die gewinnt man nicht, wenn man lediglich absolute Nachteile ausgleicht, die man vorher erlitten hat. Sind alle europäischen Nachbarn nur eingebildete Kranke, die gar nicht merken, dass Deutschland eigentlich immer noch schwach ist und lediglich versucht, seine Schwächen aus der Vergangenheit auszugleichen? Oder ist es reine Interessenpolitik einer kleinen, aber mächtigen deutschen Wirtschaftselite, die versucht, dem Rest der Welt unter dem Vorwand, ja nur die deutschen Arbeitsplätze und damit die deutschen Arbeitnehmer schützen zu wollen, Sand in die Augen zu streuen, um die eigenen Pfründe zu schützen?

So geht insgesamt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass in Deutschland in großem Maße „Lohnzurückhaltung“ geübt wurde, die auch die Industrie einschließt. Der direkte Vergleich der Produktivitätsentwicklung und der Lohnstückkosten in Abbildung 6 belegt das. Die Produktivität ist in Deutschland zwar gestiegen, die Lohnstückkosten aber nicht, was bedeutet, dass von Deutschland ein permanenter Preisdruck ausging, der für die deflationäre Entwicklung einschließlich der Zinsentwicklung in Europa verantwortlich ist.

Abbildung 6

Dass es in den deutschen Medien keine starke Stimme gibt, die diese Zusammenhänge klar darstellt und eine Gegenöffentlichkeit zu der Lobbyistenposition eines IW schafft, lässt für Europas Zukunft nichts Gutes erwarten.