Economics and politics - comment and analysis
5. January 2020 I Heiner Flassbeck I Economic Policy, Europe, General Politics

Die Zwanziger Jahre und das neue Denken

Wir Glücklichen! Endlich haben wir es geschafft, die namenslosen, die unaussprechlichen ersten beiden Jahrzehnte dieses Jahrhunderts hinter uns zu bringen. Nullerjahre und Zehnerjahre waren furchtbare Wortgeschöpfe, die in der deutschen Sprache einfach nichts zu suchen hatten. Doch jetzt! Jetzt kommt das erste wirklich namhafte Jahrzehnt, die Zwanziger Jahre.

Wie das schon klingt: Die Zwanziger Jahre. Vor einem Jahrhundert gab es „goldene zwanziger Jahre“ oder die Roaring Twenities, wo sich nach einem schrecklichen Krieg die Lebensfreude einen Weg bahnte und einige kurze glückliche Momente schuf. Denkt man an die damaligen Zwanziger Jahre, sieht man sofort die Charleston tanzenden Damen mit ihren putzigen Kopfbedeckungen vor sich, auch wenn man das alles naturgemäß nur aus zweiter Hand kennt.

Doch der Aufschwung und die Lebensfreude der „Zwanziger“ des vergangenen Jahrhunderts währten nur wenige Jahre. Sie wurde brutal beendet von einer Wirtschaftskrise, deren Dimension alles bisher und nachher Gesehene in den Schatten stellte. Die „Große Depression“ wurden politisch niemals überwunden, von einer Aufarbeitung der politischen Fehler ganz zu schweigen. Ihre Auswirkungen verloren sich in den Wirren eines neuen globalen Krieges.

Zwanziger Jahre steht daher für eine „unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ (Milos Kundera) ebenso wie für eine unfassbare Naivität in wirtschaftspolitischen Fragen. Der spekulationsgetriebene Kapitalismus feierte eine letzte große Party und die Politik stand staunend daneben, ohne auch nur im Ansatz zu begreifen, dass es ihre Rolle ist, die Bowle rechtzeitig wegzuräumen.

Parallelen zu heute?

Wer Parallelen zu heute sucht, wird sie ohne Zweifel finden. Die Naivität in Sachen Wirtschaftspolitik ist wiederum sehr groß, obwohl sich die intellektuellen Voraussetzungen für eine aufgeklärte Sicht auf die Bedeutung des Staates in der Marktwirtschaft deutlich verbessert haben. Die Ungleichheit bei Vermögen und Einkommen hat heute wie damals eine Dimension erreicht, bei der die Macht der Reichen und die Erpressbarkeit demokratisch gewählter Politiker so groß werden, dass die Demokratie zur Farce zu werden droht.

Die Ungleichheit, das Gefühl, systematisch abgehängt zu werden, ist auch eine entscheidende Triebfeder des Nationalismus, der rund um den Erdball eine Renaissance erlebt. Die Verheißung einer globalisierten Wirtschaft, die allen eine faire Chance gibt, hat sich nicht erfüllt. Auch wenn es global gesehen eine Verbesserung des Lebensstandards gegeben hat, ändert das doch nichts daran, dass die obszöne Ungleichheit den Eindruck der Armen, abgehängt worden zu sein, immer wieder neu bestätigt.

In viel mehr Ländern als jemals zuvor gehen die Menschen auf die Straße und fordern Teilhabe und eine Ende der „alternativlosen“ neoliberalen Politik. In Chile zum Beispiel, wo der Neoliberalismus von einer brutalen Diktatur vor vierzig Jahren zum ersten Mal in letzter Konsequenz umgesetzt wurde, beginnt jetzt eine Rebellion gegen die Ungerechtigkeit, die weit über Lateinamerika hinaus Kreise ziehen wird.

Europa als Hort der Vernunft?

In einer zunehmend irrationalen Welt mit zunehmend irrationalen politischen Führern feiert sich das „alte Europa“ klammheimlich als Hort der Vernunft. Doch das ist eine grandiose Illusion. Brüssel ist zu Beginn der zwanziger Jahre ohne jede intellektuelle Führung. Praktisch alle Personalentscheidungen des vergangenen Jahres, deren Auswirkungen teilweise bis zum Ende der zwanziger Jahre reichen, waren Fehlentscheidungen. Ursula von der Leyen, um nur das prominenteste Bespiel zu nennen, ist mit ihrer mechanischen Standardkommunikation genau das Gegenteil dessen, was Europa bräuchte.

Doch für Kritik an Europa als solchem und für ein Hochlebenlassen des Nationalstaates besteht trotzdem überhaupt kein Anlass. Europa ist immer nur so gut wie seine Nationalstaaten, weil die Nationalstaaten bisher einfach kein Europa zugelassen haben, das sich von ihrem Kleingeist emanzipieren könnte. Italien hat sich aus einer rechten in eine belanglose Regierung gerettet und hofft wieder einmal, Europa könnte ihm die Rettung bringen. In Frankreich laboriert Präsident Macron weiter mit seinen neoliberalen Reformen, ohne begreifen zu könne, das die massenhafte Proteste und Streiks gegen seine Politik einen durchaus rationalen Kern haben.

Deutschland als Vorbild?

Und Deutschland, die selbsternannte Führungsnation, irrlichtert durch die Zeiten und glaubt fest daran, Vorbild für andere sein zu können, weil es für ein paar Jahre mit seiner merkantilistischen Politik die Europäische Währungsunion zu Lasten seiner Nachbarn ausgenutzt und deswegen relativ gut abgeschnitten hat.

Mit der ihr eigenen unvergleichlichen Chuzpe hat die Bundeskanzlerin die Absurdität ihrer eigenen Position in ihrer Neujahrsansprache kundgetan. Die Frau, die in Deutschland seit fast fünfzehn Jahren die Richtlinien der Politik bestimmt, findet jetzt, dass die Deutschen „mehr denn je den Mut zu neuem Denken“ brauchen, „die Kraft, bekannte Wege zu verlassen, die Bereitschaft, Neues zu wagen, und die Entschlossenheit, schneller zu handeln, in der Überzeugung, dass Ungewohntes gelingen kann“.

Man stelle sich vor, das sagt die Person, deren  gesamte politische Karriere von einer Partei getragen wurde und wird, die – wie niemand anderes auf dieser Welt – für altes Denken steht. Eine Partei, die seit Jahrzehnten jede geistige Neuerung von sich weist, wenn die den Prinzipien des Malermeisters um die Ecke und denen der schwäbischen Hausfrau widersprechen. Eine Partei, die ökonomische Unvernunft zu einem Markenkern gemacht hat, weil sie nur damit die immerwährende Unterstützung „der Wirtschaft“ und deren Geld bekommt.

Wenn Angela Merkel neues Denken fordert, kann das nur als die Aufforderung an die Wähler verstanden werden, sich von den Parteien mit dem großen C im Namen endgültig zu verabschieden. Vielleicht meint sie es sogar so. Vielleicht hat sie insgeheim nach all den Jahren und kurz vor dem Ende des eigenen politischen Weges verstanden, dass es diese Parteien gerade nicht sind, von denen man ein radikales und rationales Umgehen mit den Herausforderungen des nächsten Jahrzehnts inklusive der Klimakrise erwarten kann.

Was ist das neue Denken?

Die Grundprinzipien eines wirklich neuen Denkens sind leicht zu verstehen. Sie orientieren sich weitgehend an einem Bild der Wirtschaft, das sich von dem Kindergartenmodell der Neoliberalen und dem eines Ludwig Erhard fundamental unterscheidet. Nicht der Markt ist in der Marktwirtschaft in der Führungsrolle, sondern der Staat. Nur der Staat kann die Steuerung des Systems übernehmen, wenn die Privatwirtschaft das, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr spontan tut. Die derzeit zu beobachtende private Investitionsschwäche bei gleichzeitig hohen Gewinnen der Unternehmen ist das klassische Beispiel dafür.

Auch international kann neues Denken nur heißen, zu verstehen, dass Wettkampf der Nationen ein völlig verfehlter Ansatz ist. Deutschland muss Abschied nehmen von seinem Uraltmerkantilismus, der in hohen Leistungsbilanzüberschüssen zum Ausdruck kommt. Das ist das am meisten aus der Zeit gefallene Wirtschaftsmodell überhaupt. Für Europa bedeutet das, die von Deutschland durchgesetzten Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes auch formal außer Kraft zu setzen und durch eine moderne, gesamtwirtschaftlich durchdachte Konzeption zu ersetzen.

Auch in Sachen Klimakrise, da hat die Bundeskanzlerin Recht, ist neues Denken angesagt. Aber wiederum geht es dabei gegen ein statisches Bild von Wirtschaft, wo die bestehenden Unternehmen mit Hilfe konservativer und liberaler Parteien das Sagen haben. Auch die in liberalen und konservativen Kreisen verbreitete Hoffnung, der Markt werde das Klimaproblem schon lösen, wenn man ihn nur machen lasse, ist mit dem Wort „absurd“ nicht mehr angemessen zu beschreiben. Nur der Staat, besser die internationale Staatengemeinschaft (sofern sie wirklich existiert) können die Weichen an den Märkten für fossile Energieträger so stellen, dass die Unternehmen und die Konsumenten sich auf lange Sicht an eine klimaneutrale Lebens- und Produktionsweise anpassen.

In der Tat, es gibt vieles, was neu zu denken und neu zu machen ist zu Beginn dieses kritischen Jahrzehnts. Was fehlt, sind politische Köpfe, die der Bevölkerung und der Wirtschaft erklären könnten, worum es wirklich geht. Worthülsen reichen nicht mehr. Doch die politischen Köpfe, die unabhängig und klug genug wären, sich dieser gewaltigen Kommunikationsaufgabe zu stellen, die gibt es nicht, weil sie in unseren Parteien keine Überlebenschance haben. Die Parteiendemokratie ist am Ende, ohne dass eine Alternative in Sichtweite wäre. Jenseits aller konkreten politischen Aufgaben liegt hier die größte Herausforderung: Wie muss ein System beschaffen sein, in dem die besten Köpfe sich auf Politik einlassen und nicht nur diejenigen, deren Ego groß genug ist, um sich alles zuzutrauen?